ICH BLIEB SKEPTISCH UND PERPLEX, ABER ICH BLIEB


2018

Ausstellung, Rauminstallation, Malerei

Solo Show bei Galerie Bipolar (im Exil) im Kulturny Dom Lipsk / Salon Similde

Galerie Bipolar (im Exil)
Kulturny Dom Lipsk / Salon Similde

DON´T EAT STUFF FROM THE SIDEWALK ODER VOM SPRECHEN DER DINGE

anlässlich der Ausstellung Ich blieb skeptisch und perplex, aber ich blieb
Von Martin Holz

Jegliches hat seine Zeit wie ein Jegliches seine Zeit hat" stand in Sprühschrift geschrieben auf einer Wand. Und diese Wand war eine Mauer, eine Mauer auf der Haldinsel Rerik und sie trennte die Himmelsrichtungen voneinander, trennte Ost und West und ich machte dort Urlaub als Kind, als Ost und West nicht mehr getrennt waren und ich Jos Diegel noch nicht kannte.

Jos Diegel sollte ich aber kennen und schätzen lernen - und zwar im Internet. Auf einer Dating Seite. Nein, kleiner Scherz. Er bewarb sich für einen Ausstellungsbeitrag und ich war von seinen Arbeiten überzeugt schon damals. Das es mich freut diese im Salon Similde, mit dem ich verbunden bin, zu sehen, brauche ich eigentlich nicht zu erwähnen. Ein Heimspiel könnte man also sagen. Und so denke ich an etwas, dass zu meinem Heim, zu meinem zuhause gehörte, nämlich die Ostsee, die Halbinsel Rerik und an diese Wand, an die Himmselrichtungen und an die Zeit zwischen mir und mich.

Ich glaube nicht, dass Jos Diegel manchmal Urlaub macht; es erweckt nicht den Anschein, dass, wenn man mit ihm spricht, sein Sprechen manchmal pausiert. Oder nur ausnahmsweise, denn Jos schläft natürlich auch, oder isst gelegentlich. Ich beginne auch lieber nicht davon zu sprechen, dass dieser Eindruck von Jos Diegels Lebenslauf nur bekräftigt wird. Diese turbulente Sammlung schier unzähliger Tätigkeiten. Wann sollte da Platz sein. Platz für Urlaub. Für Ibiza. Oder andere Inseln, denn eine Insel ist er ja wohl auch selbst, eine Insel, die ihren Radius stets erweitert, sich mit anderen oder dem Festland verbindet und so in der Welt zuhause ist - zuhause mit einer Kunst, die sich spielerisch bis auflösend zwischen oder fern fester Diszplinen bewegt und gestaltet. Sie erscheint wie ein offener und steter, wie ein unstillbarer und neugieriger Prozess zu sein, wie etwas, dass nicht aufhört - und ans aufhören denkt Jos sicherlich nicht. Ich hoffe es zumindest. Und so scheint es im ständigen Taumel des Tuns keinen Raum zu geben, keine Sekunde für Strand und Swimmingpool. Intuitiv und spontan, fast impulsiv und Grenzen durchschreitend, transgressiv also, so wirken seine Arbeiten; sie wirken wie ein Gespräch mit einem guten Freund und man vergisst den Bäcker auf dem Weg dorthin. Und ich will nun vergessen. Die Zeit, die Wand und das zuhause.

Das Vergessen ist den Arbeiten Jos Diegels immanent. Auch seinen Übermalungen, die in "Ich blieb, skeptisch und perplex, aber ich blieb" zum ersten mal geschlossen gezeigt werden. Auch ich möchte bleiben und zum bleiben einladen. Wie ein Kind, das Jegliches ignorierend sich ganz der Aufgabe des Spiels widmet und die dabei gebaute Sandburg ist einfach alles, die Kunst und der Moment, wo Jos Diegel vermutlich durch Straßen laufend, jene Objekte findet, Gemälde, vielleicht billige Prints, die er vor der Müllabfuhr zu retten sucht und die später im Atelier ihrem je eigenen Schweigen entrissen werden, denn obschon diese Dinge noch sprechen, so verlieren sie doch kein Wort. Sicher erzählen sie etwas. Fakten oder Motive. Aber kein Wort über die subjektive Dimension, nichts über das Wohnzimmer, in dem sie hingen oder den Käufer, der vor vielen Jahren von ihnen fasziniert war. Weggeworfen und ausrangiert befinden sich in einer Art Jenseits und damit in einem genauso offenen Raum. Und in diesem Raum, diesem Sandkasten lässt Jos Diegel eine neue Sprache geschehen. Er übermalt, er schreibt und lässt die Dinge so etwas sagen, das vorher nicht da war. Er unterbricht das Schweigen, ringt ihm Worte ab und Bilder. Er verbindet die Zeiten vor und nach dem Moment, als wer sagte: "weg damit", als sie vertrieben worden aus den eigenen vier Wänden und überwindet sie so, die Mauer, er löst sie auf, die Trennwand zwischen den Zeiten und erinnert, was unsagbar fort und mit neuen Worten belebt wird. Aus der Halbinsel wird wieder ein ganzes, wird Land und in Länder lädt Jos ein.

Vor kurzem schrieb mir ein Freund, dass in allen Dingen tiefe Bedeutung läge und ich habe nachgedacht. Ist das Jakob Böhme, ist das irgendein Theosoph? Nebensache, dachte ich, wichtiger ist wohl, dass es an uns liegt diese Bedeutung in Jeglichem zu erkennen und darüber in uns selbst zu schauen. Es ist Jos Diegel, der uns einen weiten Einblick gewährt und dies tut zweierlei: Ich schätze es und es ermutigt selbst tätig zu werden. Denn wer könnte es nicht? Das Schokoladenmädchen der Großmutter mit Kommentaren versehen, mit Sprache, die animiert von diesem Anblick, nach außen und auf dieses Bild drängt. Wir machen es auch. Auf Toiletten, im öffentlichen Raum oder gelangweilt auf Arbeit. Wir reden, krakeln und träumen. Aber es bedarf Jos Diegels unerschrockener Offenheit, seiner Neugier und dem Wunsch nach Sprache, das aus Krakeln und Kritzeln der Traum vom Bild wird. Träumen wir also etwas.

Träumen wir von einer Sprache: Aus uns selbst , der Zeit und vielleicht dem Vergessen geborgen. Erinnern wir uns also auch. Erinnern wir uns an unsere Vorstellung, an ihre Kraft und hören den Dingen zu, den Fantasien, egal wie abwegig sie sind und gar nicht so abwegig ist vielleicht folgendes: um mir alles zu erklären stelle ich mir vor mit Jos auf einen Flohmarkt zu gehen und damit auf ein Abenteuer schweigender, aber zu entdeckender Sprache. Ich könnte der leuchtenden Neugier seiner Augen oder dem Wasserfall seiner Worte und Assoziationen lauschen. Dummerweise denke ich dabei an einen Film und zwar an die Romanze "Die blaue Lagune". Jeder kennt sie, glaube ich zumindest. Zwei Gestrandete, ein Mädchen und ein Junge, bringen ihr Leben verschollen auf einer Insel und eben an dieser blauen Lagune zu. Sie verlieben sich natürlich. Ich will mich in Jos nicht verlieben. Schließlich ist da Clarissa, die ihm in ihrer vertrauten Herzlichkeit zur Seite steht. Und zuhört. Und außerdem sind Lagunen still und kein Wasserfall. Aber ich stelle mir vor mit ihm auf Entdeckung zu gehen, so wie wir es als Kinder taten: auf Schatzsuche. Ich habe als Kind nämlich Schatzkarten gezeichnet und natürlich war auf diesen Karten ein Kreuz. Ich hätte Jos am liebsten eine Karte in die Hand gedrückt. Mit eben jenem Kreuz, das die Stelle markiert: dieses Schweigen nämlich, dieses verborgene, beliebige und im Schutt der Bananenkisten verborgene Ding, dass, von seinen Augen getroffen wie vom Blitz, schließlich Sprache wird. Der Flohmarkt als El Dorado der Möglichkeiten. Und so stelle ich mir einen Ort vor, einen Ort aus stillen Wellen, denn auch in der Stille spricht es. Wie damals auf Rerik, nur anders und ich betrachtete eine Mauer. Ich habe damals nämlich nicht verstanden, was die Sprühschrift bedeutete, konnte es mir nicht erklären, sie sagte mir nichts. Wir wissen zum Glück, dass Jos keine Mauer ist. Er trennt nicht die Dinge, die schon nicht mehr getrennt sind. Er fügt sie zusammen und so hat Jegliches nicht nur seine Zeit und wartet darauf von ihm oder uns entdeckt und zum Sprechen gebracht zu werden wie Pinochhio in den Leben und Leidenschaft gehaucht wird; ein Jegliches hat auch seine Sprache und wir müssen nur zuhören.

Ich könnte nun zurückkehren. Zurückkehren in der Zeit, aber darauf habe ich keine Lust. Lieber möchte ich auf in ein Grundproblem hinweisen, den Finger darauf drücken und ich tue es. Also los, also dann: obschon die Dinge nämlich sprechen, indem wir Ihnen zuhören, so schweigen sie zuerst und allen voran ist es die Natur, die die Klappe hält. Was für eine Ambivalenz. Kein Baum erzählt uns schließlich wie es ihm geht. Er antwortet auch nicht, wenn man ihn fragt. Alles ist ruhig und der Mensch haucht den Dingen Leben ein. Er spricht für sie und erzählt. Unablässig erzählt er, erzählen wir, obschon wir so winzig sind, so klein und so nichts und weßhalb sollte auch nur irgendwer etwas zu sagen haben? Hat wer was zu melden? Was bedeutet es, wenn Jos Diegel's Lagune beginnt zu flüstern, der Stille zu entkommen und Bilder entstehen lässt, mit Worten, Zitaten, Farben? Es bedeutet sich diesem Abgrund zu widersetzen und dem Schweigen der Dinge Paroli zu bieten. Und ich? Ich sollte ja auch nichts sagen und tue es trotzdem. Ich bin winzig und dennoch bin ich groß. Der Mensch in der Revolte ist der Mensch in der Offenheit der Dinge. Und sein Traum, sein wunderbarer Traum ist die Lichtung des Abgrunds. Ja wir leuchten das Dunkle an, alles ist so verworren, und die Pinsel von Jos Diegel sind Taschenlampen darin. Schalten wir sie also an. Diese Bilder! Sie könnten nichts sein. Jos hätte sie liegen lassen, sie nicht bemerken, sie ignorieren können und doch tat er es nicht. Und so winken sie mit einem Fingerzeig, deuten und reissen klare Funken ins Dunkel des Dschungels. Etwas hat schließlich zu ihm gesprochen, hat interessiert. Was das sein mag, bleibt ein Rätsel und dieses Rätsel muss nicht gelöst werden. Wir müssen nur die Ohren oder die Augen spitzen oder "Lieber sollte man machen" wie Jos mir erzählte und Jos erzählte viel, denn "das Schweigen ist das Problem" und "wer redet ist nicht tot". Tot sind wir alle nicht, noch nicht und es ist das Lebende das sich im Reden behaupten kann, sich aufbäumen und sich zeigen. Und wie schön ist das. Die Worte, die wir unserem liebsten Menschen zuflüstern, die Briefe an unsere besten Freunde, erleichternde Aussprachen und die Möglichkeit, sich auszudrücken. Aber gibt es da nicht auch eine Gefahr? Für die erzählenden Übermalungen? Könnte es nicht sein, dass in ihnen etwas wohnt, ein Stachel? In den Farben und Formen, den Bildern darunter und den Fragen dazu?

Nun, alles hat seine Zeit. Hat seine Zeit um geglaubt zu werden und wir glauben auch zuerst alles. Fast alles. Ich hatte heute einen Autounfall. Tatsächlich? Geht es Dir gut? Mir geht es gut, aber Sprache verleitet uns zur Annahme von Wahrheit. Man denke nur an Zeitungen. An Gossip. Es verleitet uns "alles bei barer Münze" zu nehmen. Ja echt. Und noch echter geht es schließlich darum, dem Brunnen, der da Worte ausspuckt, wir müssen all der Sprache auf den Grund gehen, um "mit rechtem Herzen" zu reden. Martin Heidegger spricht von der Kunst als ins Werksetzung der Wahrheit. Das ist sehr romantisch. Schließlich sagen andere, dass sie lügt, um die Wahrheit zu sagen. Aber ich denke darauf kommt es nicht an. Denn die Wahrheit, die sie enthält, gehört nicht der Welt der Fakten an. Nicht unbedingt. Ihre Wahrheit liegt mehr in ihrem Wesen, liegt darin, sich von Himmelsrichtungen nicht beeindrucken zu lassen, nicht von der Zeit und was sie trennt. Jos liess sich nicht vom Dogma des Mülls – "Don't eat stuff from the Sidewalk" – beeindrucken, er lehnte sie nicht ab, diese gammeligen, alten oder komischen Bilder; er hob sie auf, eigenete sie sich an, liess sie in seine Welt und sie wurden ein Teil von ihm. Ich stelle mir vor, wie das wohl geschieht. Und sehe es wie im Wrestling passieren und Jos mag Wrestling. Es ist, als stünde er im Ring mit ihr, der Kunst, aber nicht bis aufs Blut. Eher wie ein Kind und als Kinder haben wir gespielt. Leiche zum Beispiel und Stöcke waren Gewehre. Ich würde mich also gern von Jos erschiessen lassen und einen "Ausflug ins Blaue" machen. In der blauen Lagune verweilen und seinen Worten und Bildern zuhören, die dem Schweigen abgerungen und abgetrotzt worden sind. Denn ein Jegliches tut es: alles spricht zu uns, wenn wir uns dem Schweigen nur stellen. Und ich freue mich, freue mich ihm, Jos und dem Rauschen des Wasserfalls zuhören zu dürfen, der Stille und dem Gewitter des Pinsels.

Träumen wir also, erinnern wir uns: wie groß der Augenblick ist und wir darin und das wir das Vergessen ruhig vergessen können und die Zeit. Und Jegliches um uns herum. Um zu sprechen. Um zuzuhören. Uns selbst und den Dingen. Und so weiß ich heute, was ich mir nicht erklären konnte. So spricht denn, was damals nicht sprach. Mit oder ohne einen Laut.

"Don't eat stuff from the Sidewalk" by The Cramps
www.youtube.com/watch?v=nFYv7ly-7EM